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Das Wikipedia-Dilemma: Pflege ist so wichtig wie Innovation, motiviert aber nicht so sehr

Konrad Lischka
Konrad Lischka
2 minuten gelesen
Das Wikipedia-Dilemma: Pflege ist so wichtig wie Innovation, motiviert aber nicht so sehr

In einer fast 60 Jahre alten Kurzgeschichte steht eine phantastische Parabel für die größten Herausforderungen der Wikipedia, der Open Street Map und jeder Software, die mehrere Versionen und Jahre im Einsatz ist. Der argentinische Autor Jorge Luis Borges erzählt in »Von der Strenge der Wissenschaft« von der perfekten Landkarte. Der Herrscher eines längst untergegangenen Reiches wollte eine vollkommene Karte seines Imperiums schaffen. In einer seiner Karten war das Abbild einer Provinz des Reichs so groß wie eine Stadt. Aber selbst diese Karte war dem Herrscher nicht detailliert genug, also ließ er die Arbeit an einer Karte im Maßstab 1:1 beginnen. Irgendwann wurden die Karten nicht mehr gepflegt, weil die Ressourcen des Reichs nicht genügten. Die 1:1-Karte wurde nicht fertig, das Imperium zerfielt und es blieben nur verfallene Überreste der Modelle übrig.

An eine solche zu groß geratene und sich irgendwann selbst überlassenen Karte erinnern mich manche Unterseiten von Artikeln in der Wikipedia oder Friendica-Profile. Jedem Mitmach-Projekt im Netz und jeder gemeinschaftsgetriebenen Software droht das Schicksal der 1:1-Karte: Je größer und detaillierter eine Karte wird, umso mehr Pflege ist nötig, um sie nützlich zu halten. Nur ist leider bei vielen Projekten die größte Motivation für Mitwirkende, die Möglichkeit, etwas gänzlich Neues zu schaffen. Auf diesen Zielkonflikt zwischen dem Erschaffen und der Pflege des Erschaffenen kann man einige Probleme der Wikipedia oder dezentraler sozialer Netzwerke zurückführen. Wenn zu viel Kraft für das Erschaffen neuer Projekte, Artikel und Programme aufgewendet wird, verfällt das Bestehende irgendwann. Bei der Open Street Map kommen seit 2010 für jede Überarbeitung eines Details drei völlig neue Ergänzungen. Bisher ist die Mitmach-Karte noch gut nutzbar und aktuell. Doch wie lange hält das noch? Alan McConchie beschreibt die Entwicklung in diesem Essay.

Was tun? Die Technikhistoriker Lee Vinsel und Andrew Russell formulieren die provozierende These: »Innovation is overvalued« – Pflege sei viel wichtiger. Mir erscheint dieser Gegensatz allerdings künstlich. Tatsächlich kann ja auch die Pflege eines bestehenden Projekts durchaus kreativ sein und etwas auch etwas gänzlich Neues hervorbringen. Ein Beispiel für die Wikipedia: Viele Artikel leiden inzwischen meiner Ansicht nach daran, dass sie für viele Leser zu ausufernd und detailreich sind. Wer Details zu einem Aspekt eines Themas sucht, wird fündig. Wer einen Überblick der wichtigsten Aspekte eines Themas für Laien haben will, ist oft überfordert. Die Pflege dieses Fundus könnte auch das Schreiben von Zusammenfassungen sein.

Man muss nicht immer bei Null beginnen.

Blog

Konrad Lischka

Projektmanagement, Kommunikations- und Politikberatung für gemeinnützige Organisationen und öffentliche Verwaltung. Privat: Bloggen über Software und Gesellschaft. Studien, Vorträge + Ehrenamt.
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