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Die schönsten Liebesromane

Die schönsten Liebesromane

30 Geschichten über das schönste und traurigste der Gefühle. 30 Liebeserklärungen von Autoren unserer Zeit. Den Band habe ich 2006 für die VVA-Mediengruppe als Herausgeber betreut.

Inhalt

Das wunderliche Buch der Liebe (Vorwort)

Glück, das ist für zwei Drittel der Deutschen die Liebe. Die große, die romantische, die erfüllte Liebe. Oder, wie es heute in Umfragen heißt: eine funktionierende Partnerschaft. Fast jeder zweite Deutsche ohne Partner fühlt sich einsam und leidet darunter. Meinungsforscher beobachten eine neue Sehnsucht nach dem wohl größten der Gefühle. Aber sie entdecken zugleich auch das: All die Sehnenden sind nicht so recht überzeugt, dass es gibt, was sie da begehren: Weniger als die Hälfte der Deutschen glaubt an die ewige Liebe, zwei Drittel der Befragten kennen Menschen, die an eine Trennung denken. All die Umfragen sagen uns mit viel Aufwand etwas, das Goethe in diesen wenigen Zeilen im West-östlichen Divan erfasste:

Wunderlichstes Buch der Bücher ist das Buch der Liebe!
Aufmerksam hab´ ich´s gelesen:
wenig Blätter Freuden,
ganze Hefte Leiden;
Einen Abschnitt macht die Trennung.
Wiedersehn! ein klein Kapitel,
Fragmentarisch. Bände Kummers,
mit Erklärungen verlängert,
Endlos, ohne Maß.

„Wenig Blätter Freuden, ganze Hefte Leiden“ – so verschieden, aber immer heftig ist es also, das größte und traurigste der Gefühle. Und so unterschiedlich sind auch die Geschichten der 30 Romane, welche die Autoren des bücher-Magazins in diesem Buch der Liebe hier vorstellen: In seinem Roman „Lucinde“ etwa feiert Friedrich Schlegel die einzig wahre, die romantische Liebe mit solchen Worten: »Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen.«

Da erinnert sich die große Friederike Mayröcker an ihren verstorbenen Lebenspartner Ernst Jandl, macht in „Und ich schüttelte einen Liebling" die bedingungslose Liebe zweier Menschen spürbar, die miteinander erlebt und reflektiert haben. Wer dieses Buch gelesen hat, muss nicht nur an die Liebe eines Lebens glauben, er weiß auch, wie sie sich anfühlt.

Und dann gibt es auch diese Geschichte, eines jener „ganzen Hefte Leiden“ Goethes: Tolstois Roman über den Niedergang der lebenshungrigen Anna Karenina, die sich in einen jungen Grafen verliebt, ihren Mann verlässt, ihren Sohn verliert, alles aufgibt für den Geliebten, für dieses Gefühl, das ihr sagt: Es ist richtig so, es wird gut. Doch als sie dann endlich zusammen leben, zwar geächtet von der Gesellschaft, aber eben doch zusammen, da ist dieses Gefühl auf einmal verschwunden. Sie haben alles aufgegeben und unendliches Leid gewonnen.

Aber warum ist das so? Warum kann die Liebe einfach so verschwinden, oder sich in grausam-eisigen Hass verwandeln? Goethe, der Analytiker der Liebe, der in seinen „Wahlverwandtschaften“ die Liebe einem wissenschaftlichen Experiment gleich durchspielte, hat seine Antwort so gedichtet: „Heut ist mir alles herrlich; wenn´s nur bliebe! Ich sehe heut durchs Augenglas der Liebe.“ Macht Liebe also blind? Ein wenig. Vielleicht setzt sie die Vernunft außer Kraft, vielleicht blendet ihre Intensität so sehr, dass manche Aspekte im Schatten verborgen bleiben.

Wer liebt, nimmt anders wahr. Es ist aber nicht der Geliebte, der diese Wahrnehmung trübt, es sind wir selbst, wie Goethe einmal seinem Sekretär Riemer darlegte, Menschen würden nicht das lieben, was der Geliebte sei, sondern das, was sie in ihm erkennen. Eigentlich sei die Liebe also egozentrisch, das Objekt der Liebe sei unsere Vorstellung des Geliebten. Das ist es, was in Stanislaw Lems einziger Liebesgeschichte „Solaris“ eine Frau zweifeln lässt, als der Protagonist der Geschichte ihr seine Liebe gesteht: „Du weißt doch, dass ich dich liebe“, sagt er. Ihre Antwort: „Mich?“ In „Solaris“ reflektiert Lem Goethes Idee der egozentrischen Liebe. Lem fragt: Kann ein Mensch einen anderen überhaupt wirklich lieben, gar kennen? Schätzen, mögen, lieben wir einen Menschen oder nur das Bild von ihm in unserem Kopf? „Ich kenn dich nicht, ich kenn dich nicht, was willst du…?“, sagt am Anfang dieses Roman ein Freund des Protagonisten zu ihm, den er nach vielen Jahren wieder sieht. „Ich kenne dich nicht“ – dieser Satz klingt als Leitmotiv den gesamten Roman über nach. Der Held glaubt zu halluzinieren, wähnt sich gefangen in seinen Erinnerungen, immer wieder beschreibt er seine Wahrnehmung, beschreibt die Frau, in die er sich verliebt.

Die Liebe will sich mitteilen. Ob Briefe und Gedichte oder E-Mails und SMS: Liebende haben immer schon ihr Empfinden, ihr Bild des anderen, ihre Selbsterforschung niederschreiben müssen. Liebe ist „wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt“, vergleicht Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Manchen Liebesroman hat sicher solch ein Kind geschrieben, dem Echo lauschend. Denn natürlich erzählen Dichter auch von sich. Friedrich Schlegel zum Beispiel, der in „Lucinde“ die Liebe als Glücksgemeinschaft beschreibt, der eine Frau feiert, die »vollkommene Freundin und zärtlichste Geliebte« zugleich ist und in manchem Schlegels großer Liebe Dorothea Veit ähnelt.

Und natürlich schreiben Dichter nicht nur über sich. Sie wollen das Leben begreifen, also auch die Liebe. Warum sie das größte und traurigste der Gefühle ist, können sie nicht beantworten. Aber das Wie, das kann niemand besser beschreiben als ein Dichter. 30 solcher Bücher haben wir ausgesucht. Schriftsteller und bücher-Redakteure stellen sie in diesem Band vor. Das sind manchmal sehr persönliche Geschichten, immer aber Entdeckungen, Augenöffner, Blicke in die Seele. Und manchmal geben diese Geschichten einem auch einen Stich ins Herz. So muss es sein. Denn, wie Goethe in seinem Trauerspiel „Egmont“ Klärchen sagen lässt:

Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

Die Zeit der grausamen Wunder (über Lems Solaris)

Der Psychologe Kris Kelvin verlässt die Erde, verlässt die Stadt, wo sich seine Frau Harey vor Jahren umgebracht hat, verlässt den Ort, wo er etwas zu ihr gesagt hatte, „um sie am empfindlichsten zu treffen“. Das hat er damals geschafft. Jetzt reist Kelvin zu einer Forschungsstation auf den Planeten Solaris, den wohl am weitesten von seiner Vergangenheit entfernten Ort im Universum. Und dort wacht Kelvin neben Harey auf. Oder neben einer Frau, die ihn an Harey erinnert? Sie sitzt morgens an seinem Bett, im weißen Strandkleid, barfuß, die Beine übereinander geschlagen. Sie schaut ihn an, unentwegt. Und sie schweigt. Kelvin fragt: „Wie kommst du hierher?“ Sie antwortet: „Ich weiß nicht. Ist das schlimm?“

So beginnt eine der aberwitzigsten, zugleich eine der berührendsten Liebesgeschichten überhaupt. Dass sie im Weltall spielt, ist ohne Belang. Das ist lediglich der Ort, an dem der im Frühjahr 2006 verstorbene polnische Autor Stanisław Lem dieses grausame Wunder der Liebe durchspielen und sich dabei ganz auf die Psychologie seines Protagonisten konzentrieren kann, ohne allzu viel Aufwand auf einen Plot zu verschwenden, der glaubwürdig macht, dass eine Tote aufersteht. Dass das geschieht,  glaubt Kelvin zunächst. Er sieht in dieser Frau an seinem Bett erst nur Harey. Ihre Stimme scheint ihm dieselbe zu sein, ganz dunkel, und auch der zerstreute Tonfall, „als liege ihr nicht viel an den geäußerten Worten, als sei sie schon mit etwas anderem beschäftigt, dadurch wirkte sie manchmal gedankenlos und manchmal wie ohne alle Scham.“ Kelvin will die Frau in seinem Zimmer beschreiben und spricht doch nur über seine verlorene große Liebe. Doch das ändert sich.

Denn Kelvin weicht nicht von ihrer Seite und sie nicht von seiner. Er verliebt sich. Er verliebt sich in diese Frau, die er erst als Harey sieht, die er dann nur noch Harey nennt, von der er langsam begreift, dass sie nicht Harey ist. Er stellt Berechnungen an, um zu prüfen, ob er halluziniert. Und er muss sich eingestehen: „Ich war nicht wahnsinnig. Der letzte Hoffnungsstrahl erlischt.“ Und je klarer ihm wird, dass da wirklich jemand ist, jemand, den er Harey nennt, in dem er manchmal Harey sieht, desto mehr empfindet er für diese Frau.

Er fragt sich, was er da liebt. Seine Erinnerung? Ein Geschöpf dieses Planeten? Doch all die Zweifel sind belanglos, als sie ihn fragt: „Wie steht es zwischen uns?“ Da ist nur noch sein Gefühl da, das Gefühl für sie, die er Harey nennt. Sie hat Angst. Sie wacht nachts auf, zitternd, ruft in Furcht nach ihm: „Kris…? Bist du da Kris? Es ist so dunkel.” Und er tröstet sie. Er umarmt sie. Er drückt sie an sich, küsst ihre Hände, die nassen salzigen Finger, beschwört sie, kniet sich vor ihr nieder, umarmt ihre Knie. Als sie sagt: „Ich liebe dich“ ist ihm zum Schreien. Er nennt sie Liebling. Und er zuckt zusammen: „Als ich das sagte, war mir selbst nicht klar, ob ich mich verstellte, aber auf einmal im Dunkeln umfasste ich blindlings ihren schlanken Rücken, und als ich das Zittern darin spürte, da glaubte ich an sie. Im übrigen weiß ich es nicht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich sie betrog, nicht sie mich, denn sie war nur sie selbst.“

Nein, wir erfahren nicht mit letzter Gewissheit, woher diese neue Harey kommt. Vielleicht ist sie ein Produkt von Kelvins Geist, der von Schuldgefühlen erdrückt eine neue Wirklichkeit schafft.

Nur haben auf der Station alle Wissenschaftler Besucher wie Kelvin. Deshalb ist der Psychologe Kelvin hier: Ein Forscher hat sich umgebracht, die zwei übrig gebliebenen Besatzungsmitglieder verlassen kaum ihre Zimmer. Sie glauben, dass ihre Besucher wirklich sind, vom Planeten Solaris auf Basis ihrer Erinnerungen erschaffene Lebewesen. Das ist der Rahmen, das ist aber nicht der Inhalt dieses Romans. Solaris erzählt nicht von einer Reise zu den Sternen, vom Kampf mit Außerirdischen, sondern von der Reise ins Ich, vom Kampf eines Menschen mit seinen Dämonen, von unser aller tagtäglichen Konfrontation mit dem großen unbekannten Etwas namens Bewusstsein.

Deshalb ist dieser Roman, den Lem im Winter 1959 im verschneiten Städtchen Zakopane in der Hohen Tatra schrieb, heute noch so aktuell. Andrej Tarkowski hat ihn 1972 verfilmt, 2002 dann Oscar-Preisträger Regisseur Steven Soderbergh (Kafka, Traffic, Ocean’s Elven) hat ihn verfilmt, viele deutsche Theater haben ihn für die Bühne adaptiert. Solaris ist weder eine Science-Fiction-Story noch eine herkömmliche Liebesgeschichte. Solaris ist einzigartig: ein Liebesroman und zugleich eine Reflektion dieser Liebe, der Möglichkeit der Liebe überhaupt. Kann ein Mensch einen anderen eigentlich wirklich kennen? Schätzen, mögen, lieben wir einen Menschen oder nur das Bild von ihm in unserem Kopf? „Ich kenn dich nicht, ich kenn dich nicht, was willst du…?“ ruft Kelvins alter Kollege Snaut ihm zu, als er ihn zum ersten Mal auf der Raumstation sieht.

„Ich kenne dich nicht“ – dieser Satz klingt den gesamten Roman über nach. Als Kelvin Harey gesteht: „Du weißt doch, dass ich dich liebe“, fragt sie: „Mich?“ Und dann, in der Nacht, versucht sie sich umzubringen, trinkt flüssigen Sauerstoff. Doch sie überlebt. Sie kann nicht sterben, sie scheint kein Mensch zu sein. „Das bin ich?“, fragt sie ungläubig. Wer weiß das schon. Sie glaubt nicht, dass er sie lieben kann, so wie sie ist. „Du musst dich ekeln“, schreit sie. Denn sie ekelt sich selbst: „Ich… ich selbst… auch. Wenn ich könnte. Wenn ich nur könnte…“, stammelt Harey. „Dann brächtest du dich um?“ fragt Kelvin. „Ja“, antwortet sie. Und auf einmal merkt Kelvin, was geschehen ist. Er hat sich befreit. Und er hat sich verliebt. „Was war ist vorbei. Das ist tot. Aber dich, hier, dich liebe ich.“ Ist es so? Will er es? Will er es so sehr, dass sein Gehirn dieses Gefühl, den Eindruck dieses Gefühls erschafft, wie es diese Frau erschaffen hat?

Die beiden leben einige Wochen auf der Station zusammen. Sie flüchten sich in einen gemeinsamen Betrug, reden davon, die Station gemeinsam zu verlassen, sprechen über die Einrichtung ihres zukünftigen Hauses, streiten über die Hecke und eine Sitzbank. Doch Kelvin erkennt im Blick zurück: „Glaubten wir an das alles auch nur eine Sekunde lang? Nein. Ich wusste, dass es unmöglich war.“ Nie würde sie diesen Planeten, der sie geboren hat, verlassen, nie würde sie auf der Erde leben können. Und dann ist Harey weg. Zurück bleibt ein Zettel, wieder ein Zettel. Unterschrieben mit Harey. Und diesen Namen hat sie durchgestrichen, bevor es ihr gelang, sich umzubringen.

So endet dieses verunsichernde Buch, das uns sehr viel näher ist als die fast 50 Jahre seit Entstehen vermuten lassen. Lem schreibt nicht über andere Welten, über Technik oder die Zukunft. Er schreibt über uns, über das Menschsein. Sehr reflektiert, sehr distanziert, manchmal altväterlich. Doch er schenkt uns Sätze wie diesen: „Der ewige Glaube der Verliebten und der Dichter an die Macht der Liebe, die dauerhafter sei als der Tod, jenes ‚finis vitae sed non amor’, das uns durch die Jahrhunderte verfolgt – das ist eine Lüge. Aber diese Lüge ist nur vergeblich, nicht lächerlich. Was sonst?“ Und mit diesem Gedanken bleibt Kelvin auf Solaris, „in der Luft, worin noch die Erinnerung an ihren Atem war“. Hoffnung hat er nicht. Aber das letzte, was ihm davon noch verblieben ist, die Erwartung: „Ich wusste nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.“ Das ist das Leben.